Sicherheit und Ethik
Ein erfolgreicher Einsatz von Technologie für Menschen im Alter setzt voraus, dass auch sicherheitsbezogenen und ethischen Fragestellungen angemessen reflektiert werden. Dies ist wesentlich dafür, dass die Endnutzer:innen, seien es die älteren Menschen selber oder die Pflegenden und Betreuenden, den Einsatz der Technologie akzeptieren (vgl. z.B. Meidert und Becker 2013). Bestätigt wird die Bedeutung von Sicherheit und Ethik auch im Rahmen einer CURAVIVA-Umfrage zur Digitalisierung und zum Technikeinsatz in Institutionen für Menschen mit Unterstützungsbedarf (Seifert & Ackermann, 2019).
Ausgangspunkt der ethischen Diskussion ist die grundlegende, unverlierbare Würde eines jeden Menschen: «Im Blick auf Assistierende Technologie besteht die ethische Dimension in der Klärung der Frage, ob und wie diese neuen Technologien so eingesetzt werden können, dass sie den Bedürfnissen der alten, auf Unterstützung angewiesenen Menschen entsprechen, ihnen wohl tun und ihre Lebensqualität fördern, dass sie dem Anspruch jedes Menschen auf Selbstbestimmung, Freiheit, Privatheit und Sicherheit gerecht werden und dass sie zugleich die Arbeit der Betreuenden und Pflegenden unterstützen und erleichtern» (Rüegger et al. 2016, S. 4). Ethische Fragestellungen haben, so wird an dieser Stelle deutlich, eine grosse Nähe zu sicherheitsbezogenen Fragestellungen. Und dies umso mehr, je schwieriger es für «Technik-Laien:innen» generell und für Menschen im Alter im Besonderen ist, sicherheitsrelevante Konsequenzen bei der Nutzung von Technologien abzuschätzen.
Die von CURAVIVA Schweiz in Auftrag gegebene Broschüre «Ethische Aspekte im Umgang mit Assistierender Technologie in Institutionen der Langzeitpflege» (Rüegger et al. 2016) bezweckte die Feststellung von Vorteilen (Potenzial) und möglichen Risiken sowie von ethischen Fragen in den verschiedenen Technologiebereichen.
Ethisch sensibel, so Rüegger et al. (2016, S. 5), sind insbesondere die folgenden Einsatzgebiete:
- technische Pflegeassistenz
- Monitoring von Vitaldaten
- elektronische Kommunikation
- Sicherheitssysteme
- Unterhaltung durch virtuelle Realitäten simulierende technische Objekte
- Datenerfassung und Dokumentation.
Mit Blick auf den stationären Langzeitbereich empfehlen Rüegger et al. (2016, S. 13) aus ethischer Sicht mehrere Massnahmen zur Sicherstellung eines adäquaten Umgangs mit ethisch sensiblen Themen. Diese Empfehlungen lassen sich aus dem Bereich der Langzeitpflege auch auf ambulante und intermediäre Begleit-, Betreuungs- und Pflegesettings sowie generell auf Technikprojekte für und mit älteren Menschen übertragen:
- Leitungsverantwortliche Personen sollen gemeinsam mit den Mitarbeitenden auftretende ethische Fragen diskutieren. Es sollten gemeinsam Haltung und Perspektiven für den Umgang mit der Technologie entwickelt werden.
- Es ist sicherzustellen, dass der Einsatz der Technologie im Sinne des Prinzips des informierten Einverständnisses (sog. informed consent) stattfindet.
- Es muss eine sorgfältige Abwägung der Ansprüche der Endnutzer:innen auf Freiheit und Privatheit auf der einen und auf Sicherheit auf der anderen Seite erfolgen, und zwar ohne die Spannung einseitig auf die Seite des einen oder anderen Pols hin aufzulösen.
- Der Einsatz der Technologie darf nicht auf Kosten persönlicher menschlicher Zuwendung erfolgen.
- Es ist laufend sicherzustellen, dass die Technologie auch wirklich dem Wohl und der Lebensqualität der älteren Menschen dient bzw. die Arbeit der Pflegenden und Betreuenden erleichtert.
Good Practice: Fürenand
«fürenand.ch» ist eine interaktive Plattform zur Kommunikation, Information und Vernetzung von Personen und Organisationen in definierten Nachbarschaften und Gemeinden. Denn lebendige Quartiere und verlässliche nachbarschaftliche Hilfe sind von zentraler Bedeutung für die Aufrechterhaltung von Lebensqualität und Autonomie – gerade in Situationen von Unterstützungsbedarf.
Die Plattform «fürenand.ch» umfasst in der aktuellen Version drei Bereiche mit je unterschiedlichen Funktionen:
Die offene Plattform ist eine allen, d.h. auch nicht registrierten Personen zugängliche Informationsplattform. Hier werden Interessensgruppen, Vereine, Gewerbebetriebe sowie die Institutionen gelistet. Die Gebietsgrösse entspricht der Grenze der politischen Gemeinde.
Die geschlossene/n Plattform/-en («Nachbarschaften») werden mit Initiant:innen eröffnet, ebenso wie mit ihnen Ort, Anzahl und Grenzen der Nachbarschaften (z.B. einzelne Wohnhäuser, Quartiere) bestimmt werden. Die geschlossene Plattform ist nur registrierten privaten Nutzer:innen zugänglich.
Alle auf der Plattform «fürenand.ch» registrierten Nutzer:innen können eine Gruppe («Plattformräume») eröffnen, um so die Gruppenfunktionalitäten zu nutzen. Dies können beispielsweise Interessensgruppen (z.B. Sport, Jassen), Vereine, Gewerbebetriebe (z.B. Dorfladen, Bäckerei) oder Institutionen (z.B. Schule, Kirche) sein. Der:die Gruppengründer:in administriert die Gruppe und kann Moderator:innen bestimmen.
Aktuell wird ein weiterer Gruppentyp für die private Pflege und Betreuung entwickelt und soll die Plattform demnächst ergänzen. Zudem wird die Zertifizierung durch die Stiftung «Access for All» angestrebt, um die Plattform möglichst barrierefrei zu gestalten.
«fürenand.ch» ist eine gemeinnützige Initiative der Belvita Schweiz AG. Vernetzte und interprofessionelle Versorgung im Quartier ist ein Kernanliegen der Belvita Schweiz AG. Mit der Plattform «fürenand.ch» sollen dieses Versorgungssetting und die damit verbundenen Koordinations- und Organisationsaufgaben unterstützt werden.
Für private Nutzer:innen ist die Nutzung der Plattform gratis, die gewerbliche Nutzung ist mit Gebühren verbunden.
Herausforderung, Herangehensweise und Erfahrung in Bezug auf Sicherheit und Ethik
Bei jedem Technikprojekt gilt es zunächst, die gesetzlichen Anforderungen an den Datenschutz und die Datensicherheit zu erfüllen. Darüber hinaus gibt es jedoch diverse Möglichkeiten, wie das Projekt mit Blick auf Selbstbestimmung, Freiheit, Privatheit und Sicherheit gestaltet wird. Das Projektteam hat dabei diverse Grundsatzentscheidungen zu fällen, welche häufig ein Abwägen zwischen unterschiedlichen Anforderungen erfordern. Das Thema Sicherheit und Ethik hat entsprechend auch das Projekt «fürenand.ch» über die Jahre kontinuierlich begleitet.
So stellte sich für «fürenand.ch» beispielsweise die Herausforderung, sowohl grösstmögliche Sicherheit und Transparenz für die Nutzer:innen herzustellen, während die Erfassung persönlicher Daten andererseits auf einem möglichst niedrigen Level gehalten werden muss, um ihre Privatsphäre zu schützen. Ein weiteres thematisches Beispiel, welches die Abwägung zwischen verschiedenen Anforderungen illustriert, fällt in den Bereich der Selbstbestimmung: Zwar lebt die Plattform von einer regen Nutzung der Dienste und Funktionalitäten. Man möchte möglichst viele Personen erreichen und ihnen Ideen an die Hand geben, wie sie durch die Funktionen der Plattform profitieren können. Es muss jedoch jedem:jeder Nutzer:in selbst überlassen sein, zu bestimmen, in welchem Ausmass man an den Aktivitäten der Plattform teilhaben und allenfalls einen persönlichen Nutzen daraus ziehen möchte. Damit verbunden ist auch die Diskussion rund um das – aus datenschutzrechtlicher Sicht nicht unproblematische – Thema Webtracking. Dieses wird von Betreibern:innen von Webseiten eingesetzt, um das Nutzungsverhalten der Besucher:innen zu erfassen, was Rückschlüsse auf ihre Interessen und Gewohnheiten ermöglichen soll.
Im Rahmen der Auseinandersetzung mit ethischen und sicherheitsrelevanten Fragen hat die Belvita AG Recherchen und Nutzerbefragungen durchgeführt und sich eingehend mit verschiedenen Nutzergruppen und ihren Anforderungen beschäftigt. Die folgenden Punkte stellen ausgewählte Resultate dieser Auseinandersetzung dar:
- eine Anmeldung ist nur mit echtem Namen (Vorname, Nachname) möglich, damit eine Identifizierbarkeit innerhalb der Gemeinschaften gewährleistet werden kann. Dabei erfolgt eine automatisierte Überprüfung der Zugehörigkeit in der Nachbarschaft;
- welche persönlichen Daten erfasst werden, ist abhängig von den genutzten Funktionen (gemäss dem Prinzip so wenig wie möglich, so viel wie nötig);
- es findet ein verschlüsseltes Hosting der Daten auf sicheren Servern in der Schweiz statt;
- die Nutzer:innen bleiben im Besitz ihrer Contents (Texte, Bilder, Dokumente etc.), es erfolgt keine Weitergabe der Daten an Dritte und keine Auswertung durch Belvita;
- aktuell wird auf ein Analysetool verzichtet; sollte in Zukunft eines eingesetzt werden, muss die Software auf dem Belvita-Server gehostet werden, damit keine Analysedaten bei Dritten gespeichert werden. Eine Analyse darf ausschliesslich zur Verbesserung der Benutzerfreundlichkeit und Funktionalitäten der Plattform vorgenommen werden;
- es wird auf Verknüpfungen und Dienste von datensammelnden Konzernen (z.B. Google, Facebook) sowie die Nutzung von CDN (Content Delivery Network) soweit wie möglich verzichtet. Zudem gibt es keine Werbebanner seitens Dritter;
- die Inhalte werden nicht gescannt, es wird auf die Selbstregulierung in den Gemeinschaften gesetzt, um allfälligen Missbrauch zu melden;
- die Nutzer:innen können ihren Kommunikationsradius und ihre Sichtbarkeit frei wählen;
- die Nutzer:innen können selbstständig eigene Beiträge sowie das eigene Profil und die eigenen Gruppen löschen – aus Sicherheitsgründen geschieht dies als «Soft-Delete»;
- die Beiträge von Interessensgruppen, Vereinen, Gewerbe und Institutionen werden auf der öffentlichen Plattform der Gemeinde und nicht in den geschlossenen Plattformbereichen angezeigt. Es besteht die Möglichkeit, solche Beiträge zu «abonnieren», damit sie in der eigenen Übersicht erscheinen. Privatpersonen haben umgekehrt die Möglichkeiten, ihre Beiträge auf der offenen Plattform der Gemeinde zu posten;
- im Bereich der Nachbarschaftshilfe kann ein Gesuch anonym gestellt werden, wie man dies von Chiffre-Inseraten in Zeitungen oder Zeitschriften kennt.
Wichtigste Lessons Learned
- Es bedarf einer laufenden und engen Zusammenarbeit und eines Austausches mit den Initiant:innen und Nutzenden der digitalen Lösung, um ihre Bedürfnisse, aber auch Bedenken in ethischer und sicherheitsbezogener Hinsicht zu erkennen.
- Die Bedürfnisse in den Quartieren/Nachbarschaften aller Stakeholder sind genau zu analysieren. Dabei muss eine aktive Auseinandersetzung mit den Fragen rund um Datenschutz und den Schutz der Persönlichkeit bei möglichst grossem persönlichem Freiraum bei der Nutzung stattfinden.
- Die pilotmässige Nutzung von Funktionalitäten in der Life-Umgebung durch verschiedene bzw. spezifische Altersgruppen (je nach Zielgruppe) kann bislang noch verborgen gebliebene ethische und sicherheitsbezogene Aspekte aufzeigen.
- Eine Zusammenarbeit mit Hochschulen ist im Allgemeinen und mit Blick auf ethische und sicherheitsbezogene Fragestellungen von Vorteil.
- Die Interessen der Initiant:innen und der Nutzer:innen können divergieren oder gar widersprüchlich sein. Eine qualitative Abgrenzung seitens Projektleitung ist wichtig.
Kontakt und weitere Informationen
Markus Schneider
Geschäftsführer Belvita Schweiz AG
www.fuerenand.ch
Literaturangaben
- Meidert, U., und Becker, H. (2013). Technische Assistenz in Alters und Pflegeinstitutionen – Bedarf und Akzeptanz aus Sicht der Fachpersonen. Schlussbericht. Studie im Auftrag von CURAVIVA Schweiz.
- Seifert, A., & Ackermann, T. (2019). Digitalisierung und Technikeinsatz in Institutionen für Menschen mit Unterstützungsbedarf. Studie im Auftrag von CURAVIVA Schweiz. Zürich: Zentrum für Gerontologie. Zugriff am 20.12.21.
- Rüegger, H., Roulet Schwab, D., Eggert, N. (2016). Ethische Aspekte im Umgang mit Assistierender Technologie in Institutionen der Langzeitpflege. Hrsg. von CURAVIVA Schweiz, Fachbereich Menschen im Alter. Bern. Zugriff am 17.6.2019.